Dissoziative Identitätsstörung - Spezialisten und Informationen

09.03.2017
Dr. med Gustav Wirtz
Medizinischer Fachautor

Die dissoziative Identitätsstörung ist eine seltene chronische psychische Störung. Sie wird auch Multiple Persönlichkeitsstörung genannt. Betroffene nehmen ungewollt mehrere Persönlichkeitszustände mit verschiedenen Identitäten an. Diese Persönlichkeiten übernehmen wiederholt die Kontrolle über das Verhalten der betroffenen Person.

Hier finden Sie weiterführende Informationen sowie ausgewählte Spezialisten und Zentren für dissoziative Identitätsstörungen.

ICD-Codes für diese Krankheit: F44.81

Artikelübersicht

Definition: Dissoziative Identitätsstörung

Die dissoziative Identitätsstörung (DIS) ist die schwerwiegendste Form einer dissoziativen Störung. Sie ist auch als „Multiple Persönlichkeitsstörung“ bekannt. Die Erkrankung beinhaltet alle bedeutsamen Elemente anderer dissoziativer Störungen. Im Rahmen der Erkrankung können z.B.

  • dissoziative Amnesien (Gedächtnisverlust),
  • Fugue-Zustände (plötzliches, unerwartetes und zielloses Weglaufen einer Person ohne objektiv feststellbaren Grund),
  • starkes Depersonalisationerleben (d.h. das Selbst und der eigene Körper wird als fremdartig und unwirklich wahrgenommen)
  • oder Derealisationserleben (d.h. die Umwelt wird als fremd wahrgenommen)

auftreten.

Dissoziative Identitätsstörung als chronische Störung

Die dissoziative Identitätsstörung ist eine chronische Störung. Normalerweise sind die in den der Krankheitsklassifikationssystemen DSM-IV und ICD-10 beschriebenen dissoziativen Störungen zeitlich begrenzt. Wird eine dissoziative Identitätsstörung nicht sachgerecht behandelt, kann sie dauerhaft bestehen bleiben. Im Laufe des Lebens kann sie sich in unterschiedlichen Formen manifestieren.

Existenz mehrerer Teilpersönlichkeiten

Die multiple Persönlichkeitsstörung ist einer der ungewöhnlichsten psychischen Zustände. Der Betroffene spaltet sich in mehrere scheinbar separate und unabhängiger Teilpersönlichkeiten auf. Sie bestimmen abwechselnd das Verhalten eines Menschen. Das wirkt auf manche Menschen ungeheuer faszinierend und veranlasst andere dazu, vehemente Empörung zum Ausdruck zu bringen.

Die Möglichkeit der Existenz solcher Teilpersönlichkeiten innerhalb eines Individuums nährt Zweifel daran, ob die allgemein akzeptierten Grundannahmen über die Einheit der Persönlichkeit und der Bewusstseinsstruktur gültig sind.

Schwierigkeit der Zuordnung von Symptomen

Darüber hinaus können fast alle Symptome auftreten, die viele andere psychiatrische Erkrankungen charakterisieren. Die Zuordnung psychopathologischer Syndrome und komorbider (zusätzlich auftretender psychischer) Störungen kann daher sehr schwierig sein.

Geschichte der dissoziativen Identitätsstörung

Die Geschichte der dissoziativen Identitätsstörung verläuft parallel zur Geschichte der modernen Psychiatrie.

Jean-Martin Charcot (1825-1893) und seine berühmten Mitarbeiter, wie z.B.

  • Babinski (1857-1932),
  • Bernheim (1840-1919) und
  • Janet (1859-1947)

erforschten das Phänomen intensiv. Sie machten dissoziative Phänomene im Allgemeinen und die „multiple Persönlichkeitsstörung“ im Besonderen zu einem zentralen Punkt ihrer Theorien über die Psychopathologie und die Psyche.

In den USA fand eine ähnliche Entwicklung statt. Die wichtigsten Vertreter, William James (1842-1910) und Morton Prince (1854-1929) hatten persönliche Erfahrungen mit DIS-Patienten. Aufgrund dieser Erfahrungen setzten sie sich mit dem Wesen des Bewusstseins und der Organisation der Psyche auseinander.

Selbst Freud erforschte zu Beginn seines Schaffens das Wesen des Doppelbewusstseins (z.B. Fall Anna O. in Breuer). Später entwickelte Freud jedoch seine psychodynamische Theorie. In deren Mittelpunkt steht kurz gesagt nicht die Dissoziation, sondern die Verdrängung und andere unbewusste Mechanismen,

Pierre Janet prägte den Begriff der Dissoziation als Desintegration und Fragmentierung des Bewusstseins. Er beschrieb ein bis heute gültiges Diathese-Stress-Modell. Es dient als Basis für aktuelle Theorien zur Dissoziation wie z.B. die Theorie der Strukturellen Dissoziation.

Die Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung wurde erstmals 1980 in einem psychiatrischen Klassifikationssystem (DSM-III, APA 1980) aufgenommen. 1991 erfolgte die Aufnahme auch in die ICD-10.

Häufigkeit der Multiplen Persönlichkeitsstörung

In der ICD-10 wird die dissoziative Identitätsstörung als seltene Störung angegeben. Sie weist aber eine ähnliche Häufigkeit auf wie die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Schätzungen zufolge sind 1-3 Prozent der Gesamtbevölkerung betroffen. Unter Patienten in psychiatrischer Behandlung könnten 5 Prozent von einer dissoziativen Identitätsstörung betroffen sein. Die dissoziative Identitätsstörung ist also keineswegs selten. 

Frauen scheinen viel häufiger von der dissoziativen Identitätsstörung betroffen zu sein als Männer.

Patienten werden allerdings selten oder gar nicht, häufig aber fehldiagnostiziert. Das heißt, dass Ärzte die Störung nicht erkennen oder eine falsche Diagnose stellen. Das betrifft aber wahrscheinlich auch alle anderen dissoziativen Störungen. Entsprechend werden die Patienten häufig auch nicht psychotherapeutisch behandelt, oder sie können von der Behandlung nicht erwartungsgemäß profitieren.

Durch eine frühzeitige Diagnostik kann dagegen eine störungsspezifische Psychotherapie eingeleitet werden. Damit lässt sich der Erkrankungsverlauf der dissoziativen Identitätsstörung günstig beeinflussen.

Ursachen der psychischen Störung

Verschiedene Studien versuchten herauszufinden, warum manche Menschen an einer dissoziativen Identitätsstörung leiden. Dabei zeigen sich signifikante physiologische Unterschiede zwischen DIS-Patienten und Kontrollpersonen. Diese Unterschiede drücken sich in einer Vielfalt von Verhaltensweisen aus. Dazu gehören unter anderem

  • Sehschärfe,
  • Reaktionen auf Medikamente,
  • Allergien,
  • Hautleitfähigkeit,
  • Plasma Glukose-Spiegel bei Patienten mit Diabetes mellitus,
  • Herzfrequenz,
  • Blutdruck,
  • galvanische Hautleitfähigkeit,
  • Muskelspannung,
  • Lateralisation (Aufteilung von Prozessen auf die rechte bzw. linke Hirnhälfte),
  • Immunfunktionen,
  • EEG Muster und Muster evozierter Potentiale,
  • Aktivierungen in der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomografie (fMRT),
  • Hirnaktivierung und
  • regionaler zerebraler Blutfluss erfasst mit Single Photon Emission Computed Tomography (SPECT) und Positron Emission Tomography (PET).

Insgesamt zeigen DIS-Patienten eine eher größere physiologische Variabilität zwischen ihren Identitäten als simulierte Identitäten bei den Kontrollprobanden. Diese Variabilität ist größer als die Art reproduzierbarer Unterschiede, die zwischen verschiedenen Individuen gefunden werden.

Aktuelle Studien haben signifikante psychobiologische Unterschiede zwischen verschiedenen Arten alternativer Identitäten bei der dissoziativen Identitätsstörung gefunden, wenn jede Identität im Wechsel ein Trauma Script anhörte, das nur eine Identität subjektiv als eine „persönliche“ Erinnerung empfand. Diese Unterschiede beinhalteten sowohl subjektive sensomotorische und emotionale Reaktionen, psychophysiologische Reaktionen wie Puls und Blutdruck als auch Muster regionalen zerebralen Blutflusses. Das lässt sich mittels Positronen-Emissionstomographie messen.

Diese psychobiologischen Unterschiede wurden nicht festgestellt, wenn jede der beiden unterschiedlichen Arten alternativer Identitäten abwechselnd ein neutrales, nicht-traumatisches, autobiografisches Erinnerungs-Script anhörte.

Traumatische Erlebnisse im Kindesalter

Darüber hinaus gibt es die Hypothese, dass wechselnde Identitäten aus traumatischen Erlebnissen der Kindheit entstehen. Insbesondere traumatische Erlebnissen vor dem fünften Geburtstag erschwert es Kindern, ein vereinheitlichtes Selbstgefühl zu entwickeln. Diese Schwierigkeiten finden oft im Zusammenhang mit Beziehungs- oder Bindungszusammenbruch statt. Sie können die Vorläufer und Vorbereiter von Missbrauch und der Entwicklung von dissoziativem Verarbeiten sein können.

Schwere und langwierige traumatische Erlebnisse können zur Entwicklung von abgegrenzten, personifizierten Verhaltenszuständen (d.h. bruchstückhaften Persönlichkeitsanteilen) in dem Kind führen. Diese haben dann eine Einkapselung nicht auszuhaltender traumatischer

  • Erinnerungen,
  • Affekte,
  • Gefühle,
  • Überzeugungen oder
  • Verhaltensweisen

zur Folge und mildern so deren Einfluss auf die Gesamtentwicklung des Kindes.

Eine sekundäre Strukturierung dieser abgegrenzten Verhaltenszustände findet über einen längeren Zeitraum durch verschiedene Entwicklungs- und symbolische Mechanismen statt und hat schließlich die Charakterzüge der spezifischen Persönlichkeitsanteile zur Folge. Diese Anteile können sich in Anzahl, Komplexität und dem Gefühl der Getrenntheit noch entwickeln, während das Kind durch Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter geht. Die dissoziative Identitätsstörung entwickelt sich während der Kindheit, dabei wird selten über Fälle berichtet, die aus Traumata im Erwachsenenalter entstanden sind.

Statt Aufspaltung einer Kernidentität Entwicklung mehrerer Persönlichkeiten

Die Theorie der „strukturellen Dissoziation der Persönlichkeit“ als ätiologisches (ursächliches, begründendes) Modell, basiert auf den Ideen von Janet und versucht, eine einheitliche Theorie der Dissoziation zu erstellen, das die dissoziative Identitätsstörung einbezieht. Diese Theorie nimmt an, dass Dissoziation das Ergebnis eines grundlegenden Versagens der Integration von Ideen- und Funktionssystemen der Persönlichkeit ist. Nachdem die Persönlichkeit potentiell traumatisierenden Ereignissen ausgesetzt war, kann diese aus ihrer Ganzheit in einen „offenbar normalen Teil der Persönlichkeit“ (apparently normal part of the personality, ANP), zuständig für das alltägliche Funktionieren, und einen „emotionalen Teil der Persönlichkeit“ (emotional part of the personality, EP), zuständig für die Verteidigung, aufgeteilt werden. Verteidigung ist hier bezogen auf psychobiologische Funktionen des Überlebens nach Lebensbedrohung wie Kampf/Flucht, nicht die psychodynamische Art der Verteidigung. Es wird angenommen, dass chronische Traumatisierung und/oder Vernachlässigung zu sekundären strukturellen Dissoziationen und dem Auftreten von zusätzlichen EP’s führen kann.

In Kürze besagen solche ätiologischen Modelle, dass die dissoziative Identitätsstörung nicht aus einer einheitlichen „Kernpersönlichkeit“, die zerbrochen oder verletzt wird, entsteht. Die dissoziative Identitätsstörung ist danach eher die Folge eines Versagens der normalen entwicklungsbedingten Integration, die durch überwältigende Erfahrungen und gestörte Betreuer-Kind-Interaktionen (Vernachlässigung und fehlendes Reagieren mit einbezogen) während früher Entwicklungsperioden ausgelöst wird. Dies führt dann wieder dazu, dass manche Kinder relativ abgegrenzte, personifizierte Verhaltenszustände entwickeln, die schließlich zu DIS-Persönlichkeitsanteilen werden.

Kontroverse über die Ursachen der dissoziativen Identitätsstörung

Manche Autoren sind der Meinung, dass die dissoziative Identitätsstörung von Psychologen erzeugt wird, die stark an die Störung glauben und die ihre Patienten implizit beeinflussen, die Symptome zu „spielen“. Nach diesem „soziokognitiven“ Modell ist die dissoziative Identitätsstörung „eine sozial konstruierte Kondition, die aus Stichworten des Psychologen (z.B. suggestives Fragen nach der Existenz von möglichen wechselnden Identitäten), Medieneinfluss (z.B. Film und Fernsehporträts von dissoziativen Identitätsstörungen) und weitergreifenden soziokulturellen Erwartungen über die angenommen klinischen Merkmale der dissoziativen Identitätsstörung resultiert.

Manche Befürworter des soziokognitiven Modells glauben etwa, dass die Herausgabe des Buches und Films Sybil in den 1970ern eine grundlegende Rolle in der Entwicklung der Vorstellungen der dissoziativen Identitätsstörung in den Köpfen der allgemeinen Bevölkerung und der Psychotherapeuten spielte“.

Trotz dieser Argumente gibt es keine Studien, die zeigen, dass die komplexe Phänomenologie der dissoziativen Identitätsstörung durch Suggestion, Ansteckung oder Hypnose hervorgerufen, oder gar über längere Zeiträume aufrechterhalten werden kann.

Symptome der dissoziativen Identitätsstörung

Die American Psychiatric Association und die Weltgesundheitsorganisation haben die dissoziativen Störungen zwar charakterisiert, haben aber die Eigenschaften von Dissoziation als solcher nicht vollständig beschrieben. Folglich sagt das DSM-IV-TR aus, dass „das entscheidende Merkmal der dissoziativen Störungen eine Unterbrechung der normalerweise integrierten Funktionen von Bewusstsein, Gedächtnis, Identität, oder Wahrnehmung ist“.

Es ist Gegenstand von anhaltenden Diskussionen, wie weitgefasst oder eng die Definition von Dissoziation sein sollte. Putnam (2003) beschrieb den Dissoziationsprozess als „einen normalen Vorgang, der anfänglich einem Individuum zum Schutz dient, um mit traumatisierenden Erlebnissen umzugehen, sich dann aber zu einem dysfunktionalen oder pathologischen Prozess weiterentwickelt“. Eine Reihe von Autoren benutzt den Begriff beschreibend, um Bezug auf Fehler in der Integration von Informationen und Selbstattributionen zu nehmen, die normalerweise integriert sein sollten, und um Bezug auf Veränderungen des Bewusstseins zu nehmen, die durch ein Gefühl der Abspaltung von dem Selbst und/oder der Umwelt charakterisiert sind.

Negative dissoziative vs. positive dissoziative Symptome

Eine weitere Untergliederung basiert auf Pierre Janet’s Unterscheidung zwischen negativen dissoziativen (d.h. einer Abnahme oder einer Aufhebung eines psychologischen Prozesses) und positiven dissoziativen (d.h. einer Erzeugung oder Überzeichnung eines psychologischen Prozesses) Symptomen. Die Definition von Dell und O’Neil (2009) arbeitet das zentrale Konzept der Unterbrechung des DSM-IV-TR aus: „Pathologische Dissoziation manifestiert sich im Wesentlichen in einer teilweisen oder vollständigen Unterbrechung der Integration psychischer Prozesse einer Person.

Im Besonderen kann Dissoziation das Bewusstsein und das Erleben des eigenen Körpers, der Welt, des eigenen Selbst, des Verstandes, der Handlungsfähigkeit, der Intentionalität, des Denkens, Glaubens, Wissens, Erkennens, Erinnerns, Fühlens, Wollens, Sprechens, Handelns, Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, Berührens, und so weiter, auf unerwartete Weise unterbrechen, verändern oder darin eindringen. Diese Unterbrechungen werden typischerweise von der betroffenen Person als alarmierendes, autonomes Eindringen in deren gewohntes Reagieren oder Funktionieren erlebt. Die am häufigsten vorkommenden dissoziativen Intrusionen umfassen das Hören von Stimmen, Depersonalisation, Derealisation „gemachter“ Gedanken, Drang, Wünsche, Emotionen und Handlungen.“

Dissoziative Prozesse zeigen unterschiedliche Erscheinungsformen, von denen viele nicht pathologisch sind. Im Besonderen hat Dell (2009) ausgeführt, dass spontane, auf das Überleben bezogene Dissoziationen Teil einer normalen, evolutionär selektierten, spezifischen Reaktion ist. Diese Art Dissoziation ist automatisch und reflexartig und ein Teil einer kurzen, zeitlich begrenzten, normalen biologischen Reaktion, die verschwindet, sobald die Gefahr vorüber ist. Die Beziehung zwischen dieser dissoziativen Reaktion und der Stärke und Eigenschaft der Dissoziation, die bei dissoziativen Störungen zu beobachten ist, ist noch nicht ausreichend verstanden.

Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung

Die Schwierigkeiten bei der Diagnosestellung einer dissoziativen Identitätsstörung bestehen in erster Linie in einer unzureichenden Ausbildung zu den Themen Dissoziation, dissoziative Störungen und Folgen psychischer Traumatisierungen, wie auch mitunter in einer Voreingenommenheit von Klinikern. Daraus entstehen sowohl eine gewisse klinische Skepsis als auch Fehlkonzeptionen hinsichtlich des klinischen Erscheinungsbildes.

Obwohl die dissoziative Identitätsstörung eine relativ verbreitete Erkrankung ist, beobachtete Kluft (2009), dass „nur 6 Prozent der Betroffenen ihre dissoziative Identitätsstörung andauernd offenkundig machen“. Statt offensichtlich verschiedene wechselnde Identitäten zu zeigen, präsentieren typische DIS-Patienten ein polysymptomatisches Bild aus dissoziativen und anderen Traumafolgesymptomen, das in eine Matrix aus vordergründig nicht Trauma bezogenen Symptomen eingebettet ist (z.B. depressive Symptome, Angstsymptome, Symptome von Substanzabhängigkeit, somatoforme Symptome oder Symptome von Essstörungen usw.). Die Bekanntheit der letztgenannten, sehr vertrauten Symptome führt oft dazu, nur diese komorbiden (zusätzlich auftretenden) Syndrome als Erkrankung zu diagnostizieren.

Erfragen von dissoziativen Symptomen

Diagnostische Standardinterviews und Methoden zur Erhebung des psychopathologischen Befundes beinhalten leider oft keine Fragen zu dissoziativen und posttraumatischen Symptomen oder zur Geschichte früher erlebter psychischer Traumata. Da DIS-Patienten selten freiwillig Informationen zu dissoziativen Symptomen preisgeben, verhindert das Fehlen von gezielten Fragen nach dissoziativen Symptomen die Stellung einer korrekten Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung.

Die Grundvoraussetzung für die Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung ist daher das aktive Erfragen von dissoziativen Symptomen durch die Behandler. Das freie klinische Gespräch sollte, soweit dies erforderlich ist, durch Screening-Fragebögen und strukturierte Interviews, die das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von dissoziativen Symptomen und dissoziativen Störungen untersuchen, ergänzt werden.

Bei Screening-Instrumenten (Fragebögen) ist zu beachten, dass hohe Werte allein nicht für die Diagnose einer dissoziativen Störung ausreichen. Hierfür ist eine weitere differentialdiagnostische Abklärung der vorliegenden Symptomatik im klinischen Gespräch und mittels spezifischer Diagnoseinstrumente wie z.B. strukturierte Interviews notwendig. In der praktischen Arbeit können die Screening-Instrumente sowohl zur Abklärung von Art und Ausmaß der dissoziativen Symptomatik benutzt werden, wie auch als Möglichkeit, anhand gezielter Fragen mit einer Person in ein Gespräch über ihr Erleben zu kommen.

Fragebogen zu dissoziativen Symptomen (FDS)

Das wohl am häufigsten eingesetzte Screening-Instrument ist der Fragebogen zu dissoziativen Symptomen. Der FDS ist die deutsche Adaptation der Dissociative Experiences Scale. In der deutschen Fassung wurde die DES um die Symptome somatischer Dissoziation erweitert. Sie erfasst sowohl die psychische wie auch Teile somatoformer Dissoziation. Der FDS hat 44 Items, deren Bearbeitung ca. 20 Minuten dauert.

Auf einer Skala von 0 bis 100 Prozent ist anzugeben, wie häufig die vorgegebenen Beispiele dissoziativer Erfahrungen aus dem alltäglichen Leben bekannt sind. Die Items werden den Subskalen Absorption, Derealisation/Depersonalisation, Amnesie und Konversion zugeordnet. Ausgewertet wird der FDS über Mittelwertsbildung. Klinisch relevant sind Gesamtwerte (Gesamtmittelwerte) über 12 als Hinweise auf leichte dissoziative Symptomatik, bei Gesamtwerten über 25 ist der Verdacht auf das Vorliegen einer dissoziativen Störung durch ein strukturiertes Interview zu klären.

SKID-D (strukturiertes klinische Interview für dissoziative Störungen nach DSM)

Für den deutschen Sprachraum stellt das strukturierte klinische Interview für dissoziative Störungen nach DSM den Goldstandard dar. Das SKID-D ermöglicht die Diagnosestellung aller im DSM-IV aufgeführten dissoziativen Störungen anhand operationalisierter Kriterien.

Anhand der 277 Items des halbstrukturierten Interviews erhält man eine differenzierte Einschätzung hinsichtlich Art und Schwere der dissoziativen Kernsymptome Amnesie, Depersonalisation, Derealisation, Identitätsunsicherheit und Identitätsänderung. In die Auswertung gehen neben den Antworten der Befragten auch unmittelbar im Kontakt beobachtete dissoziative Symptome wie z.B. Amnesie für vorherige Fragen, stuporöse Zustände, auffällige Wechsel im Verhalten und andere non-verbale Auffälligkeiten aus der Interviewsituation ein.

Diagnostische Kriterien für die dissoziative Identitätsstörung nach DSM-IV

Das Diagnostische und Statistische Manual, 4. Auflage, Text Revision (Saß et al. 2003) zählt die folgenden diagnostischen Kriterien für die dissoziative Identitätsstörung auf (300.14; S.214):

  • Die Anwesenheit von zwei oder mehr unterscheidbaren Identitäten oder Persönlichkeitszuständen (jeweils mit einem eigenen, relativ überdauernden Muster der Wahrnehmung von, der Beziehung zur und dem Denken über die Umgebung und das Selbst.)
  • Mindestens zwei dieser Identitäten oder Persönlichkeitszustände übernehmen wiederholt die Kontrolle über das Verhalten der Person.
  • Eine Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern, die zu umfassend ist, um durch gewöhnliche Vergesslichkeit erklärt zu werden.
  • Die Störung geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z.B. Blackouts oder ungeordnetes Verhalten während einer Alkoholintoxikation) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors zurück (z.B. komplexe fokale Anfälle). Beachte: Bei Kindern sind die Symptome nicht durch imaginierte Spielkameraden oder andere Phantasiespiele zu erklären.

Forschungsdiskurs zur Definition und Kriterien der Störung

Von dieser Kriterien-geleiteten Klassifikation unterscheidet sich die Darstellung der Erkrankung im ICD-10 unter F44.81 leider eklatant. Darin wird eine Sammlung von Beschreibungen und Annahmen zusammengefasst, die sich nur zum Teil mit den Angaben des DSM-IV deckt und wissenschaftlicher Literatur z.B. in den Punkten widerspricht, dass „die Störung selten sei und es kontrovers diskutiert werde, in welchem Ausmaß sie iatrogen oder kulturspezifisch sei“ oder dass „spätere Wechsel oft auf dramatische oder belastende Ereignisse beschränkt seien oder in Therapiesitzungen auftreten, in denen der Therapeut Hypnose oder Techniken zur Entspannung oder zum Abreagieren anwendet“.

In den letzten Jahren hat sich eine Diskussion über die diagnostischen Kriterien nach DSM-IV für die dissoziative Identitätsstörung entfaltet.

Dell (2009) hat angedeutet, dass der Abstraktionsgrad der aktuellen diagnostischen Kriterien und dementsprechend das Fehlen konkreter klinischer Symptome deren Nutzen für den nicht spezialisierten Kliniker stark reduziert, und dass eine Zusammenstellung von häufig auftretenden dissoziativen Zeichen und Symptomen das typische Erscheinungsbild von DIS-Patienten besser erfassen würde. Andere behaupten, die aktuellen Kriterien seien ausreichend. Wieder andere schlagen vor, dissoziative Störungen als zu einem Spektrum von Traumafolgestörungen gehörend neu zu konzeptualisieren und somit deren Zusammenhang mit überwältigenden und traumatischen Situationen zu betonen).

Behandlung und Heilungsaussichten

Die Behandlung einer dissoziativen Identitätsstörung erfolgt psychotherapeutisch. Zunächst erfolgt der Aufbau einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung, die der Etablierung basaler Grundannahmen von Sicherheit, Sinnhaftigkeit und Wertschätzung, der Förderung von Affektdifferenzierung und –regulation sowie der Entwicklung von Selbstverantwortung, Selbstwirksamkeit und Selbstkontrolle dient. Daraus ergibt sich eine methodenintegrierte, individuelle Langzeitpsychotherapie, die das ursprüngliche Trauma des Betroffenen lösen und somit ein einheitliches Selbst herstellen soll.

In den aktualisierten Behandlungsleitlinien der ISSTD (International Society for the Atudy of Trauma and Dissociation 2011), die aktuell ins Deutsche übersetzt werden, wird ein eklektischer Behandlungsansatz empfohlen, der psychodynamische, kognitiv-behaviourale, hypnotherapeutische und traumaadaptierte Vorgehensweisen umfasst. Dabei hat sich wie bei anderen Traumafolgestörungen ein phasenorientiertes Vorgehen bewährt, bei dem zunächst Sicherheit und ausreichende Stabilität der Patienten angestrebt wird, um sich dann gezielt der Bearbeitung traumatischen Materials zuzuwenden. Darüber hinaus kommen störungsspezifische Techniken zur Anwendung, die darauf abzielen, die dissoziierten Selbstzustände aktiv in die Therapie einzubeziehen, um somit einen Integrationsprozess zur Entwicklung eines kohärenten Selbst einzuleiten und zu unterstützen.

Langzeitpsychotherapie zur Behandlung der dissoziativen Identitätsstörung

Als Therapie der Wahl gilt eine individuelle ambulante Langzeitpsychotherapie mit bis zu zwei Stunden pro Woche über mehrere Jahre, doch haben sich auch kombinierte Therapieangebote von ambulanter und stationärer Intervalltherapie klinisch bewährt. Zudem liegen positive Erfahrungen von strukturierten Gruppenangeboten zur gezielten Stabilisierung in Kombination mit individuellen Einzeltherapien vor, die möglicherweise effizientere und ökonomischere Alternativen zur alleinigen Langzeitpsychotherapie darstellen können. Brand und Kollegen (2009) gibt in diesem Zusammenhang einen guten Überblick über die zur Verfügung stehenden Behandlungsstudien.

Medikamentöse Behandlung der dissoziativen Identitätsstörung

Die Behandlung mit Medikamenten spielt in der Therapie der dissoziativen Identitätsstörung lediglich zur Behandlung von Begleitstörungen eine Rolle. Beim Auftreten komorbider Störungen gilt es, diese nach den entsprechenden Leitlinien störungsspezifisch zu behandeln. Dies gilt auch für die medikamentöse Behandlung. Beispielsweise finden bei der Behandlung komorbider depressiver Syndrome Antidepressiva entsprechend der Schwere der Symptomatik Einsatz.

Die der dissoziativen Identitätsstörung zugrundeliegende Symptomatik ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht kurativ mit Medikamenten zu behandeln. Probatorisch wird gelegentlich Naloxon zur Unterbrechung dissoziativer Symptome eingesetzt, jedoch ohne anhaltenden Erfolg.

Quellen

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